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VIKTOR  - Auszug

1. Buch: Die Dissidenten

 

Ich weiß auch nicht welcher Teufel mich reitet!


Ich schreie die Frau, die neben mir auf der kleinen Steinmauer vor der Tankstelle sitzt an, um den Verkehrslärm der Hauptstraße zu übertönen.

„Ich würde gerne zu Ihnen sagen, dass Sie mir als Frau durchaus sexuell sehr reizvoll erscheinen. Ich könnte mir sogar vorstellen mit Ihnen drei oder vier Kinder zu zeugen. Leider fürchte ich, dass Sie diese mit ihrer Macke so neurotisieren würden, dass ich von vorneherein Furcht hätte, sie könnten sich niemals zu gesunden, stabilen Menschen entwickeln. Deshalb sage ich es nicht!“

Sie lächelt ein feines unsicheres Lächeln, während sie sich bemüht, die Bedeutung der Satzfetzen, die rumpelnde Lastwagen, wütend hupende PKW's und lautstarke Werbeansagen der allgegenwärtigen überdimensionalen Infotafeln zu ihr durchlassen zu entschlüsseln. Ich rücke die Spule des „Applikators“, der meinen Kopf wie einen Heiligenschein umfasst wieder gerade, da er mir bei der jähen Kopfwendung zur Seite in die Stirn zu rutschen droht. Auch sie trägt diese Spule über der Stirn, doch ihr steht es deutlich besser als mir, finde ich. Sie sitzt ein wenig in sich zusammengesunken in ihrer unförmigen Armeejacke, die jede Körperform retuschiert, neben mir. Ihre Augen suchen die Worte von meinen Lippen zu lesen, um einen Sinn in die akustische Kakophonie von Lärm und Sprache zu bekommen. Ihr schlankes Gesicht mit den kurzen mittelbraunen Haaren wirkt fast unscheinbar, doch es sind die Bögen ihrer Augenbrauen und die weibliche Wangenpartie, der Ausdruck ihrer großen verwirrten Augen, der mich gefangen nimmt.

Als sie mich anlächelt und dabei eine Reihe hübscher weißer Zähne entblößt, weiß ich, dass sie kein Wort verstanden hat, oder so tut, als ob sie nichts verstanden hätte. Immerhin wird sie nicht böse oder springt mit einem Fluch auf den Lippen auf.

„Können wir das jetzt wieder abnehmen?“, schreie ich und weise auf die Apparatur auf meinem Kopf. Sie winkt entschieden, fast panisch ab.

Es ist immerhin erstaunlich, dass uns noch niemand aufgespürt hat, das muss ich zugeben. Sitzen wir doch nun schon mindestens eine halbe Ewigkeit an dieser exponierten Stelle. Wenigstens einer der versteckten Sensoren in der Umgebung hätte Alarm schlagen müssen, weil wir uns nicht ordnungsgemäß weiterbewegen und die Ordnungskräfte in unsere Richtung lenken, um uns zum Weitergehen aufzufordern oder uns einer intensivierten Personenkontrolle zuzuführen.

Aber nichts dergleichen geschieht. Statt dessen sind Gefühle in mir erwacht, die ich von früher kannte, als das hier alles noch nicht so war, wie es jetzt ist. Angenehme Gefühle, unerwünschte Gefühle, sozial geächtete Gefühle.


Sie schaut mich erwartungsvoll an, ein Blick den ich nicht deuten kann. Denkt sie über meine Worte doch nach, hat sie die Botschaft empfangen? Sie öffnet den Mund und muss wohl etwas gesagt haben, was ich nicht verstehe. Ich lehne mich zu ihr hinüber, um sie besser hören zu können, dabei rutscht der „Applikator“ von meinem Kopf. Erschrocken springt sie auf und bekommt ihn zu fassen, bevor er zu Boden rutscht und Gefahr läuft zu beschädigen. Schnell setzt sie ihn mir wieder auf die Stirn. Dabei kommt mir ihr Gesicht so nah, dass ich meine, ihre Lippen auf meinen Wangen zu spüren. Einen kleinen Moment halten wir beide erschrocken inne.

„Kommen Sie, schnell, wir müssen jetzt hier weg!“, sagt sie entschieden und zieht mich am Ärmel hinter sich her. Die Wohnung, die wir wenig später im soundsovielten Stockwerk eines verlassenen Bürogebäudes betreten ist nahezu unmöbliert. Kabel mit blanken, kupferglänzende Enden, hängen wie in den Raum greifende Fangarmen nutzlos aus den Wänden und der Decke. Eine große Fensterfront nüchterner staubiger Bürofenster ohne jeglichen Zierrat erhellt mit diffusem Licht den Raum und neutralisiert nahezu jeden Schatten. In einer Zimmerecke entdecke ich eine abgenutzte Kunstledercouch, über die sie einige abgelegte Kleidungsstücke geworfen hat, direkt daneben Kartons mit zusammengewürfeltem Hausrat und weiteren Kleidungsstücken. Den Blick fesselt jedoch eine große Spule, eine fast armbreite Metallschlinge von über einem Meter Durchmesser, die aus einem unförmigen metallisch schwarzen Kasten ragt, von dem ein Kabel zu einer der am Boden befindlichen Steckdosen führt. Eine kleine rotblinkende LED weist darauf hin, dass diese offenbar in Betrieb ist. Daneben steht eine alte Autobatterie an die noch die großen roten und schwarzen Metallklemmen eines Starthilfekabels angeschlossen sind, das nun nutzlos auf dem zerschrammten und an einigen Stellen aufgerissenen Linolium des Fußbodens endet.

„Sie können jetzt die Spule abnehmen“, fordert sie mich auf, während sie die ihre bereits vorsichtig auf das freie Ende des Sofas ablegt.

„Hier wohnen Sie?“, frage ich erstaunt.

„Vorerst“.

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